Statement der Initiative Seebrücke Kempten zur Stadtratssitzung am 18.06.20

„Kempten wurde nicht zum sicheren Hafen im Sinne der Forderungen der Seebrücke erklärt.

Zehn Monate, nachdem die SPD ihren Antrag für einen sicheren Hafen in Kempten an die Stadt gestellt hatte, wurde der Antrag am 18.06.20 kurz vor Beginn der entscheidenden Stadtratssitzung von der SPD selbst vorerst wieder zurückgezogen.

Im Vorfeld sei bereits sehr deutlich geworden, dass der Antrag keine zustimmende Mehrheit bei den Entscheidungsträger*innen im Stadtrat bekommen würde. So einigten sich SPD, Grüne, Future For Kempten – alle drei Bündnispartner*innen der Seebrücke Kempten – Freie Wähler, CSU, Junge Union, FDP und ÖDP bereits im Vorfeld in internen Gesprächen, auf eine Alternative zum sicheren Hafen und dem damit einhergehenden Beitritt zum Bündnis der Seebrücke. Das Ergebnis ist eine Resolution – ein typischer politischer Formelkompromiss, der im Gegensatz zu einem Antrags-Beschluss aber nicht bindend ist.

Hier die Resolution, die einstimmig beschlossen wurde:

Die Stadt Kempten setzt sich mit ihrer gesamten Zivilgesellschaft (wie z.B. Kirchen, Unternehmen, sozialen Organisation und allen kulturellen sowie sozialen Akteuren) seit langem dafür ein, dass geflüchtete Menschen hier einen Ort zum Ankommen – „einen sicheren Hafen“ vorfinden.
Die Stadt Kempten wird weiterhin die ihr nach dem geltenden Asyl- und Aufenthaltsgesetzen von den zuständigen Landes- und Bundesbehörden zugewiesenen Menschen aufnehmen, unterbringen und versorgen. Sie wird weiterhin die im Anschluss an die vorgesehenen rechtsstaatlichen Verfahren erforderliche, bereits geübte, bewährte und von vielfältigen bürgerschaftlichen, kommunalen und staatlichen Kräften getragene gesellschaftliche Aufnahme und Integration, auf der Grundlage des Kommunalen Integrationskonzeptes Kemptens, fördern.
Der Stadtrat appelliert an alle Nationen, die geltenden völkerrechtlichen Regelungen insbesondere mit Blick auf das Seevölkerrecht, die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention zu achten.
Die Stadt Kempten appelliert an die europäische Staatengemeinschaft, eine abgestimmte Migrationspolitik auf Grundlage ihrer humanitären Grundwerte mit einem solidarischen europäischen Verteilmechanismus zu erreichen.
Die Stadt Kempten unterstützt das vom Bundesministerium des Inneren und dem UNHCR entwickelte staatlich-gesellschaftliche Aufnahmeprogramm für besonders schutzbedürftige Geflüchtete.
Die Stadt Kempten unterstützt im Rahmen ihrer kommunalen und zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten alle Bestrebungen die Lebenssituation in den Herkunftsländern zu verbessern.“

Wäre der Antrag nicht vorerst zurückgezogen und damit abgelehnt worden, so hätte in absehbarer Zeit kein gleich oder ähnlich lautender Antrag mehr an die Stadt gestellt werden können. In Anbetracht dessen war die Entscheidung der SPD eine gute Entscheidung, denn auf die oben genannten Punkte der Resolution kann wenigstens noch aufgebaut werden. Es können – so das Vorhaben von SPD, Grünen und FFK – so in naher Zukunft weitere, auch Zielen der Seebrücke entsprechende, Anträge gestellt werden, die dann nach einer möglichen positiven Entscheidung auch verpflichtend wären.

Im ersten Absatz ist von einem „sicheren Hafen“ die Rede. Allerdings hat diese Selbstbezeichnung nichts mit dem Begriff des „sicheren Hafens“, wie ihn die Seebrücke fordert, zu tun. Was eine Stadt zum sicheren Hafen macht oder machen kann, sind ganz konkrete, festgelegte Punkte und von diesen wird kein einziger Punkt erfüllt. → https://seebruecke.org/wp-content/uploads/2019/10/SEEBR%C3%9CCKE-Forderungen_Sicherer-Hafen_Stand_Oktober-2019.pdf

Der zweite Absatz der Resolution bedeutet quasi nichts anderes, als dass die Stadt Kempten alles genauso im gesetzlich vorgegebenen Rahmen und in dem Umfang, den sich die Stadt mit ihrer Migrationspolitik schon lange selbst gesetzt hat, weiter macht. Das klingt zwar nett, ist aber nichts Neues.

Der erste Appell in der Resolution klingt schön und gut, nur: Wenn der Appell nicht öffentlichkeitswirksam an konkrete Stellen gerichtet wird und somit auch den Worten keine Taten folgen und die Verantwortung wieder nur nach oben oder wo auch immer hin geschoben wird, ohne aktiv und gemeinsam mit vielen anderen Städten, Organisationen und Initiativen Druck auszuüben, dann hat dieser Appell keinen aufrichtigen und ehrlichen Gehalt. Die Stadt appelliert an alle Staaten die Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention und explizit das Seevölkerrecht zu achten, will sich aber offiziell nicht mit der zivilen Seenotrettung solidarisieren, sie nicht unterstützen und sich nicht aktiv dafür einsetzen, dass diese nicht weiterhin blockiert wird.

Auch der zweite Appell ist lediglich das, was wir schon seit Langem auch von Regierungen, vom Innenministerium und vielen anderen Stellen vernehmen können: Es wird eine europäische Gesamtlösung gefordert. Es wird also nicht selbst Verantwortung übernommen, gemeinsam mit anderen aktiv Druck ausgeübt und Initiative ergriffen, sondern die Verantwortung nach oben geschoben und darauf gehofft oder gewartet, dass alle beteiligten Staaten sich auf irgend etwas einigen, bevor Menschen in Not aktiv geholfen wird.

Die Unterstützung des Aufnahmeprogramms für besonders schutzbedürftige Geflüchtete besteht bereits seit 2012. Was bedeutet nun aber „Die Stadt Kempten unterstützt das Aufnahmeprogramm“? → https://www.bmi.bund.de/DE/themen/migration/asyl-fluechtlingsschutz/humanitaere-aufnahmeprogramme/humanitaere-aufnahmeprogramme-node.html

In diesem Punkt wird nicht klar, ob die Stadt es einfach nur gut findet und darauf wartet, dass ihr irgendwann Geflüchtete zugewiesen werden oder ob sich die Stadt gemeinsam mit anderen Städten aktiv und mit Nachdruck dafür einsetzen will, dass das Bundesinnenministerium endlich den Weg frei macht, um die besonders Schutzbedürftigen aus den menschenunwürdigen Lagern zu holen.

Der letzte Punkt ist natürlich grundsätzlich wichtig, hilft den Menschen, die jetzt gerade auf der Flucht sind und jenen, die jetzt gerade in den Lagern sitzen aber nun mal einfach kein bisschen und das wird die Unterstützung von Projekten in Herkunftsländern auch in absehbarer Zeit nicht tun. Oberbürgermeister Kiechle sprach hierzu in der Stadtratssitzung über das Projekt “1000 Schulen“ von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. → https://www.gerd-mueller.de/projekt-1000-schulen/

Einige der Beiträge von Stadtratsmitgliedern verschiedener Fraktionen, die sich dem Antrag der SPD schon im Vorfeld wohl nicht anschließen wollten, klangen eigentlich so, als stünden doch einige irgendwie hinter den Zielen der Seebrücke. Darum sind wir ehrlich gesagt ziemlich irritiert und verstehen nicht, warum die entsprechenden Fraktionen sich nicht dem Bündnis der Seebrücke – zumindest in einigen wenigen Punkten – anschließen wollen. Im Großen und ganzen konnten wir aber vernehmen, dass die meisten Entscheidungsträger*innen es wichtiger finden, Hilfe in den Herkunftsländern zu unterstützen.

Hilfe für Menschen in benachteiligten Ländern ist natürlich wichtig und nötig. Der Bau von Brunnen, die Errichtung von Schulen oder anderen ähnlichen Hilfeprojekten hilft sicher den Menschen vor Ort ein Stück weiter. Dies verhindert aber keine Kriege, keine Verfolgung, Diskriminierung, Folter, Verstümmelung, Vergewaltigung und auch keine Ausbeutung. Das Bekämpfen von Symptomen lässt die Ursachen nicht verschwinden und die Ursache liegt im gesamt-weltwirtschaftlichen System. Solange hier kein grundlegender Wandel stattfindet, solange wird es Fluchtursachen geben und so lange werden Menschen fliehen, auch nach Europa.

Zwar begrüßen wir es sehr, dass die AfD aus den vorhergehenden internen „Verhandlungen“ konsequent ausgeschlossen wurde bzw. nicht über die Verhandlungen und die Resolution informiert wurde und so ein klares Signal an die AfD gesendet wurde, dass im Stadtrat kein Interesse daran besteht, in irgend einer Weise mit der Partei zusammen zu arbeiten. Was dem Stadtrat allerdings zu Denken geben sollte ist die Frage: Wie viel Inhalt hat diese Resolution tatsächlich? Was bedeutet sie am Ende wirklich, wenn bei einer Abstimmung im Stadtrat sogar die AfD die Hände hebt. Diese hat nämlich kurz vor der Abstimmung beschlossen der „Resolution zuzustimmen, da es eine nach außen hin tragfähige „Kompromisslösung“ ist.“

Dass die Stadt sich dem Bündnis der Seebrücke nicht anschließen will um aktivVerantwortung zu übernehmen und sichgemeinsam mit vielen anderen Städten im Rahmen eines breiten Bündnis stark zu machen und so Druck auf das Innenministerium, die Regierungen und die EU-Kommission auszuüben, bedeutet: Die Stadt schiebt die Verantwortung aktiv von sich weg.

Dabei geht es hier um Menschen auf der Flucht. Um die über 20.000 Menschen, die seit 2014 im Mittelmeer ertrunken sind. Um die 24.000 Menschen, die in Moria auf Lesbos in einem Lager festsitzen, dass besser den Namen „Slum“ verdient hätte. Und um all die weiteren Menschen, die in Lagern festsitzen.

Es geht um Menschen verschiedenster Herkunft; die vor Not, Elend oder Krieg fliehen und keine andere Option sehen, als ihre Heimat zu verlassen und an Europas geschlossenen Türen – oder besser an Europas „Stacheldrahtzäunen“ zu klopfen. Es geht um Menschen, um deren Leben, Würde, Hoffnung, Perspektive, Träume, Chancen, Frieden, Sicherheit und Gesundheit.

Den genannten Fraktionen geht es aber offenbar weniger um die Menschen auf der Flucht, sondern mehr um ihr eigenes politisches Ansehen. Sie weisen die Verantwortung für die humanitäre Katastrophe an Europas Grenzen von sich und machen sich damit mitschuldig. Keiner will Verantwortlich sein.

Aber irgendjemand muss Verantwortung übernehmen.

Mit der vorher intern „erarbeiteten“ quasi inhaltslosen bzw. nicht verpflichtenden Resolution konnte schön die Abgabe der Gegenstimme und damit eine öffentliche Positionierung der einzelnen Fraktionsmitglieder von CSU, Freie Wähler, FDP und ÖDP umgangen werden.

Es konnten dann in der öffentlichen Stadtratssitzung diejenigen Beiträge vorgeschickt werden, die den Fraktionen eine möglichst gute Außendarstellung verschaffen sollten. Womit wir der SPD mit dem vorläufigen Rückzug des Antrags natürlich keinen Vorwurf machen wollen. Die SPD (sowie Grüne und FFK) stehen „weiter hinter den Forderungen der Seebrücke. Wenn der Antrag gestern gescheitert wäre, dann wäre es in absehbarer Zeit nicht möglich gewesen, den Antrag neu zu stellen. Wir haben uns nach intensiven Diskussionen für diesen Weg entschieden“, so eine Sprecherin der Fraktion.

Ja, wir sind unzufrieden mit dem Ergebnis. Wir sind wütend, weil die Resolution im Grunde nichts ist, womit die Stadt sich zu konkretem Handeln in Bezug auf die derzeitige Situation verpflichtet. Wir sind müde immer und immer wieder – gebetsmühlenartig – auf das Leid und den Tod von schutzsuchenden Menschen aufmerksam machen zu müssen. Wir fühlen uns langsam wie Phrasendrescher*innen, wenn wir wieder und wieder darauf hinweisen müssen dass Menschen vor den Augen aller einfach ertrinken und dass es unsere Pflicht ist, diese Menschen zu retten und sie an einen sicheren Hafen zu bringen.

Dennoch werden wir natürlich jetzt nicht aufgeben. Wir werden uns weiterhin für die Belange aller Menschen, die fliehen mussten und noch auf der Flucht sind, einsetzen, uns stark machen und laut sein.

Wir bedanken uns bei allen solidarischen Menschen, die die Seebrücke – egal wie, wann und wo – unterstützt haben und dies auch weiterhin tun.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei unseren Bündnispartner*innen für die Unterstützung unserer Initiative und hoffen auf weitere gute Zusammenarbeit.

Ein extra Dank geht nochmal an die Allgäuer Künstler*innen, die den eindrücklichen Video-Appell möglich gemacht haben, an die coolen Leute von der Seebrücke Wangen für den fetten Support, an den Künstlerhaus e.V. für die Bereitstellung von Räumen, die IG Metall Allgäu, Christiane Jansen samt dem Sachverständigenbüro für Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht, Ashtanga Yoga Allgäu und das SJZ react!OR für die Unterstützung bei unterschiedlichen Aktionen und die Eigeninitiative.“